Ian McEwan – Lektionen

Es scheint die Zeit gekommen für die großen, erfolgreichen Schriftsteller unserer Zeit, ihr Werk mit etwas EPISCHEM zu krönen. Wenn das allerdings ein so gekonnter und noch dazu britischer Autor wie Ian McEwan tut, kann man über das „Gewichtigkeitsversprechen“ hinwegsehen und sich auf das Lebensumfängliche einlassen.
McEwan hat dafür alle historischen Momente seines Lebens genommen und einen anderen Protagonisten erfunden, um sie für ihn noch einmal zu durchleben. „Alles, was ich weiß, und jeder, dem ich damals begegnet bin – all das wird von mir zu dem vermengt, das ich erfinde“ lässt er eine der weiblichen Hauptfiguren dieses Romans sagen, und die muss es wissen, denn sie ist darin die erfolgreichste Schriftstellerin Europas.
Roland ist der Sohn eines britischen Militärs und wächst in den 50er Jahren in Libyen auf, bis er ins englische Jungeninternat gesteckt wird. Dort gerät er in die Fänge seiner 10 Jahre älteren Klavierlehrerin, die ihn sexuell missbraucht, später von sich abhängig macht. Der ungemein trocken erzählte Beginn einer Erzählung, der – McEwan-mäßig – seine Wirkung über Jahrzehnte und 700 Seiten hinweg behalten wird. Kubakrise, Mondlandung, Thatcherismus, Sozialismus, Mauerfall, Irakkrieg, Kampf gegen den Terrorismus, Pandemie: Dies sind nur die Eckpunkte für die Lebensgeschichte von Roland, der zuletzt weder der erfolgreiche Pianist wird, der er hätte sein können, noch ein erfolgreicher Tennisstar, noch ein wahrgenommener Autor. Eine Geschichte des Scheiterns also, auserzählt bis in die engsten Windungen eines Lebens, über Generationen hinweg, voller lebendiger und menschlicher Figuren, durchdrungen und nachvollziehbar bis ins kleinste Detail. Und doch ungemein unterhaltsam und intelligent aufgeschrieben, mit dem vielgerühmten – und bei McEwan erprobten – britischen Humor und einer nie wertenden Distanz.
Nach Franzens Crossroads und neben Aramburos Die Mauersegler ist Lektionen das vielleicht empfehlenswerteste LEBENSWERK dieses Herbstes.