Tove Ditlevsen – Gesichter

Lise Mundus, Mutter dreier Kinder und preisgekrönte Kinderbuchautorin, flieht vor ihrer Jahre andauernden Schaffens- und Sinnkrise, indem sie eine Überdosis Schlaftabletten zu sich nimmt und sich rechtzeitig selbst in die Klinik einweist. Dort erfahren wir von ihrer halluzinativen Psychose, die groteske Bilder erweckt und intensive Ausmaße annimmt. Mit sprachlicher Präzision illustriert sie Gesichter und seziert die dahinter verborgenen Charaktere.

Beeindruckt hat mich dieses Buch besonders durch die bildhafte, starke Sprache, die selbst die grotesken und surrealen Szenen lebendig erscheinen lässt. Lise Mundus‘ Geschichte und ihre Wahrnehmungen werden mit einer Intensität beschrieben, die uns sukzessiv in ihr Inneres zieht und uns ihre halluzinativen Gedanken und Bilder nachvollziehen lässt. Ihre Psychose wird erfahrbar, die Wirklichkeit konturenlos.

Tove Ditlevsen hat mit „Gesichter“ einen furiosen Roman erschaffen, der heute wie bereits bei seiner Erstveröffentlichung 1969 von enormem Mut und Stärke zeugt. Sie entblößt sich, indem sie die Ambivalenz des Wahnsinns thematisiert. Ist er fürchtenswert oder kann er nicht möglicherweise als Schutzmechanismus fungieren? Und erlaubt er einem mehr Freiheiten in der sonst so geregelten und von Machtstrukturen dominierten Welt?

Die Protagonistin Lise Mundus tritt dem Wahn selbstbestimmt und mit offenen Armen entgegen und flüchtet durch ihn vor der Realität ihrer eigenen Lebenskrisen. Dies ist nur ein Aspekt unter vielen, der Bezug zu Tove Ditlevsens eigenem Leben nimmt, die selbst unter Medikamentenmissbrauch litt. Danach werden Sie Gesichter mit anderen Augen sehen.