Hervé Le Tellier – Die Anomalie

Geschichten, die im Hier und Jetzt spielen, laden, klar, zur Identifikation ein. Sofern dann, und das ist die hohe Kunst, die z. B. auch Paul Auster beherrschte, nur ein klitzekleines übernatürliches Moment hinzukommt, hält man das für durchaus plausibel.
Hervé Le Tellier, der in Frankreich als „multipler“, weil vielseitiger, Autor gehandelt und seit Neuestem auch als Träger des Prix Goncourt gefeiert wird, ist mit Die Anomalie ein wahres Meisterwerk der Irritation gelungen!
Man lernt zwölf Menschen kennen, die eines gemeinsam haben, nämlich, dass sie im Juni 2021 zufällig in selben Flugzeug von Paris nach New York sitzen. Ansonsten richtet der Autor seine Scheinwerfer auf die Leben der einzelnen Protagonist*innen und lässt uns teilhaben an scheinbar unwillkürlich ausgewählten Momenten ihres Alltags. Jedes Kapitel erzählt eine neue Szenerie und Situation, ohne Umstände eröffnet, dicht und lebendig. Tatsächlich liegen einem alle Figuren sofort am Herzen. Was genau dann auf dem Flug 006 von Paris nach N.Y. passiert, soll hier unerzählt bleiben.
Nur so viel: Das „normale“ Leben geht danach unerbittlich weiter und fordert Entscheidungen, Konsequenzen und Verzicht. Und doch muss man sich als Leser*in, gemeinsam mit den Hauptfiguren, einer Situation stellen, die unsere Vorstellungskraft bei weitem übersteigt.
Kein ausgedachter Fantasy-irrsinn, sondern echtes, seltsames Leben. Und bestellbar.
Katharina